Einführungsrede von Prof. Heinz Lohmann in der Galerie Hengevoss – Dürkop im Galeriehaus Hamburg anläßlich der Multimedia-Ausstellung " Imago Ventorum Mundi" von Claudia Liekam

Es geht in dieser Ausstellung um den Wind – lateinisch: ventus, was ins Deutsche übertragen auch Unruhe heißt. Auf jeden Fall ist Wind Bewegung der Luft. Befindet sich deshalb die Multimediakünstlerin Claudia Liekam nicht auf Abwegen, wenn sie uns hier heute eine Video Windbildinstallation präsentiert? Insgesamt werden wir mit 13 Bildschirmen und einer Tonanlage sowie vier C-Prints und einem Hybridbild zum Thema Wind konfrontiert. Schnell wird dem aufmerksamen Betrachter klar, die Bilder in den Arbeiten von Claudia Liekam stehen für Luftbewegungen – etwas zunächst statisches also für etwas dynamisches. Dieser "Widerspruch“ symbolisiert für mich persönlich die gesellschaftliche Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts.

Ventus hat im Deutschen nicht nur die Bedeutung, Wind und Unruhe, sondern auch Unheil ! Und in der Tat sind viele Menschen in dieser Zeit verunsichert. Identitätsstiftende und solidaritätsbegründende Institutionen und Funktionen der Industriegesellschaft verlieren mehr und mehr ihre Wirkung. Sie können die notwendige gesellschaftliche Stabilisierung nicht mehr leisten. Deshalb wollen die Menschen in diesen Tagen erneut wissen: Wohin gehöre ich? Und wer hilft mir in existentieller Bedrohung? Beide Fragen, die nach der Identität sowie die nach denjenigen, die mit ihnen Solidarität üben, sind am Beginn der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert gleichermaßen relevant gewesen. Die damaligen gesellschaftlichen Antworten, nämlich die moderne Nation mit Fahne und Hymne für die Identitäts- sowie die sozialen Sicherungssysteme für die Solidaritätsfrage, sind heute nicht mehr hinreichend. Die Industriegesellschaft war durch Beständigkeit gekennzeichnet. Der Standort der Technologie bestimmte den Lebensort der Menschen.

Am Beginn des 21. Jahrhunderts löst die Netzwerkgesellschaft die Industriegesellschaft langsam aber stetig ab. Ihr zentrales Kriterium ist die Mobilität. Ihre realen Symbole sind das Auto und das Flugzeug. Ihr virtuelles Symbol ist das Internet. Die Grenzen der Nationalstaaten sind längst überschritten. Das gilt für die Unternehmen in der Wirtschaft genauso wie für die Kultur und mehr und mehr auch für familiäre und soziale Bezüge. Meine beruflichen Erfahrungen in der Gesundheitsbranche sind für den beschriebenen Prozess beispielhaft. Der Umbruch ist inzwischen für jeden von uns mit den Händen zu greifen. Das überkommene System der nationalstaatlich orientierten Sozialsysteme ist nicht mehr für lange Zeit überlebensfähig. Parteien und Staat, Kirchen und nicht zuletzt auch Gewerkschaften als große und starke, die Industriegesellschaft stützende Institutionen, verlieren mehr und mehr ihre bisherige Bedeutung.

Claudia Liekam visualisiert in ihrer großen Video Windinstallation Bewegung durch Wind in Bildern. Sie symbolisiert die Hauptwindrichtungen durch Männergesichter und "dazugemischte“ Farben. Für den Nordwind steht ein schwarzer Vogelschwarm, für den Südwind roter Wein, für den Ostwind blaue Wolken und für den Westwind grüne Blätter. Claudia Liekam zeigt Impressionen und vermittelt damit Stimmungen. Neben der Farbigkeit der Videoarbeiten ist die Struktur der Installation von zentraler Bedeutung. Die Anordnung der Winde entspricht der Kompassrose. Dieses Orientierungssystem basiert auf dem Erdmagnetismus und geht auf eine alte chinesische Entdeckung zurück. Es ist damit tiefverwurzelter Teil traditioneller Sozialisationen und prägt die Vorstellungswelt der Menschen insgesamt.

Claudia Liekam verstärkt diese Struktur durch, wie sie sagt, 16 Helfer in Form von Windgeistern, die den Hauptwinden zur Seite stehen. Das Zentrum der Windinstallation wird aus vier großen und vier kleinen Bildschirmen gebildet. Die 16 Helfer können, da sie im Rhythmus auf den kleinen Bildschirmen erscheinen, bei einer 15-minütigen Umrundung im Uhrzeigersinn alle betrachtet werden. Wer auf der Stelle verharrt muss eine Stunde Zeit mitbringen. Claudia Liekam belegt diesen Kern ihrer Installation mit dem Begriff Windrose. Als Norddeutscher weiß ich seit frühester Jugend, dass damit jenes kleine Flügelrad auf der Spitze von Windmühlen bezeichnet wird, das die großen Flügel in den Wind dreht. Die Windrose stellt mithin die Funktionsfähigkeit einer Mühle her, indem sie die kraftvolle Energieübertragung erst möglich macht.

 

Am Beginn des 21. Jahrhunderts geht es ganz zentral um Orientierung durch Ordnung. Allerdings ist dieses Prinzip, wie wir tatsächlich derzeit immer wieder erleben, in der Realität nicht banal. Und Claudia Liekam wäre nicht Claudia Liekam, wenn sie auf Irritationen einfach verzichten würde. Deshalb, und hier zitiere ich die Künstlerin bewusst wörtlich, "bringen die Frauen alles wieder durcheinander“. Ihre Bilder, die Frauengesichter, korrespondieren mit künstlichen Winden, visualisiert durch einen Fächer, einen Ventilator und einen Blasebalg. Diese Bildschirme stehen bewusst außerhalb des Systems der Kompassrose. Ein weiterer künstlicher Wind, der Fahrtwind, wird durch "Hände im Wind“ auf einem langen horizontalen Hybridbild ergänzend vorgestellt. Die Präsentation wird komplettiert durch "Seismogramme“ von vier Winden auf C-Prints. Es handelt sich dabei um die digitalisierte Darstellung real existierender Winde: Garbis, Föhn, Aurassos sowie Austro. Die Blätter geben Lippenformungen, "gehauchte" Winde, auf dem Scanner wieder. Claudia Liekam gestaltet damit gleichsam "virtuelle Poesie“.

Akustisch hinterlegt die Künstlerin die Installation mit Hafengeräuschen. Diese werden hervorgerufen von Barkassen, die durch windbewegte Wellen an die Landungsbrücken in Hamburg St. Pauli gestoßen werden. Wer genau hinhört, erkennt auch Gesprächsfetzen und ein Windspiel, das an einem Andenkenstand Käufer anlockt. Ambivalenz ist der Gesamtwindruck der Installation mit Unordnung und Ordnung, Desorientierung und Orientierung - unserer Gesellschaft wird gleichsam der Spiegel vorgehalten. Die Realität ist virtuell.

Hinzuweisen bleibt noch auf das Multiple "Wirbelwind" sowie auf die Arbeit "Ariel“, jenen Windgeist aus dem "Sturm“ von Wiliam Shakespear. Der Geist sitzt eingezwängt in einer Tonne. Sein Atemzug simuliert den Wind.

Imago heißt das Bild, aber auch das Trugbild. Claudia Liekam arbeitet mit Bildern und Trugbildern. Sie nennt ihre Arbeiten Hybridvideos oder -bilder und präsentiert darin bearbeitete Realität. Diese Werke stehen nicht unmittelbar in der Tradition herkömmlicher Video-, sondern sind neuartige Computerkunst. Sie setzt bewusst Technologien ein. Sie steht mit ihren Arbeiten deshalb in jener Kontroverse, die seit den Anfängen elektronischer Kunst in den 70er Jahren ausgetragen wird: Auf der einen Seite steht die technik-kritische Ablehnung der Verbreitung von Computern quasi als Untergangsszenario und auf der anderen Seite die vorbehaltlose Übernahme von EDV basierend auf Zukunftseuphorie. Claudia Liekam’s Arbeiten lassen sich weder in die eine noch in die andere Kategorie einordnen. Das macht die Bewertung der 1961 in Osnabrück geborenen Künstlerin durch die Kunstkritik keinesfalls einfacher. Halten wir uns an die Fakten: Claudia Liekam hat von 1981 bis 1986 Kunst und Design in Hannover studiert und anschließend in der IT-Branche als Produktmanagerin gearbeitet. Seit Anfang der 90er Jahre ist sie künstlerisch tätig und lebt und arbeitet heute im Künstlerhaus Hamburg – Bergedorf. Sie hat eine große Anzahl von Einzel- und Gruppenausstellungen an bedeutenden Orten bestritten, an einer Reihe von internationalen Workshops teilgenommen und ist in wichtigen öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.

Claudia Liekam ist nicht "Opfer" der technologischen Entwicklung, nicht Abhängige, sondern sie ist "Täterin", sie nutzt Technologie. Sie geht dabei assoziativ vor und setzt ihre emotionale Intuition ein, um ihre künstlerischen Ideen zu verwirklichen. Betrachter werden zu Teilhabern ihres Dialoges. Sie sind aufgefordert, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen. Claudia Liekam`s Werke sind keineswegs Programmkunst. Sie basieren nicht auf theoretischen Strukturen, die keinen Raum für eigene Interpretationen lassen. Vielmehr fordert sie zum Gegenteil heraus. Damit erreicht Claudia Liekam eine neue Qualität der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Informationstechnologie. Sie gestaltet eine Synthese durch innige Verschmelzung. Konkrete Beispiele für diese Methodik in der Ausstellung "Imago Ventorum Mundi“ sind die Bilder der Hauptwindrichtungen. Das Ausgangsmaterial, jeweils zwei Videofilme, werden durch digitale Verarbeitung zu einer neuen, eigenständigen Bilderfolge. Die Künstlerin erreicht damit eine vollständige Konvergenz. Die Identitäten der Ursprungsarbeiten werden gewahrt und gleichzeitig unauflösbar elektronisch neu gemischt. Somit können sie als kunstkritische Modelle für den notwendigen gesellschaftlichen Prozess gesehen werden. Wenn heute Mobilität determinierend für die gesellschaftliche Situation ist, dann benötigen wir zur Überwindung von Verunsicherung und Demotivation eine neue, quasi mobile Identität. Nebenbei sei angemerkt, dass dieses auch für die Solidarität gilt.

Aktuelle Weltbilder, Imago Mundi, sind vonnöten! Claudia Liekam’s Arbeiten bieten Anknüpfungspunkte für den unausweichlichen inneren Diskurs. Gleiches gilt auch für die Diavographien mit den "Tatoos" und dem C-Print "Piercing“. Claudia Liekam generalisiert mit diesen Arbeiten die Suche nach individuellen Ausdrucksformen in der Bilderflut unserer digitalisierten Welt. Die Rückseiten der Offsetdruckplatten, auf denen die Diavographien gezeigt werden, täuschen den Effekt der Haut vor. Die Künstlerin verarbeitet Gegenwart, indem ihre Kunstwerke den Strudel ihrer fortwährenden Ideen mittels technischer Verarbeitung in die Köpfe der Betrachter transportieren. Claudia Liekam ist damit allgegenwärtig: Da gibt es kein Entkommen.

Prof. Heinz Lohmann, Krankenhausmanager und Kunstsammler

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